Wir schreiben den 25. Februar 2022. In der Nacht auf gestern hat Putin einen Krieg gegen die Ukraine gestartet. Westliche Medien sprechen von einem äusserst aggressiven Akt. Putin selbst spricht von einer notwendigen “Entnazifizierung” zum Schutze der ukrainischen Bevölkerung.
Mich erschüttert das Geschehen. Es macht mich traurig, es löst Angst, Ohnmacht und Überwältigung in mir aus. Gleichzeitig tobt mein Familienalltag. Ich bewege mich zwischen Kindergeburtstagsfeiern, Geschenke kaufen, mich über Hautausschlag informieren und wickeln, balsamieren und schnell noch Spaghetti kochen, während meine Partnerin gerade von unserer Kleinen vollgekackt wurde und noch eine Ladung Wäsche nach unten bringt.
In den sozialen Medien hagelt es wie gewohnt Expertenmeinungen und Einschätzungen rein. Man schreit nach hartem Durchgreifen, Sanktionen und auffällig ist: Viele scheinen sich ganz sicher zu sein, was die richtige Reaktion wäre, erzürnen sich darüber, dass zu wenig entschlossen gehandelt wird. Ich reagiere wie ich es meistens tue: Ich versuche einen Raum zu eröffnen, in der Unsicherheit, Nichtwissen und eine Neugier für verschiedenste Blickwinkel willkommen geheissen werden. Und werde dafür wie praktisch immer persönlich angegriffen.
Aber so sehr ihr es liebe die Rolle eines allparteilichen Mediators einzunehmen – an einem Punkt sehe ich mich sehr stark verpflichtet, klar Stellung zu beziehen: Dort, wo es um das Thema Gewalt geht. Als Psychologe, Psychotherapeut und auf verschiedenste Arten gewalterfahrener Mensch ist mir auf allen Ebenen völlig klar, wie destruktiv sich Gewalt im Kleinen auswirkt und in was für einer starken Wechselwirkung das, was im Kleinen vor sich geht, mit dem grösseren Ganzen ist.
Beim Spaziergang, um meine Einjährige im Kinderwagen etwas zum Schlafen zu bringen, treffe ich auf einen Bekannten, der gerade aus einer Gemeinschaft geflüchtet ist, bei dem er den Konflikt mit einem Mitbewohner nicht mehr ausgehalten hat. Dieser habe ihm vorgeworfen, er sei zu dominant. Gleichzeitig verweigere er ihm das Gespräch und auch schon verschiedenste Versuche, mit Unterstützung den Konflikt zu lösen, seien nicht gefruchtet. Das Ganze setze ihm psychisch sehr zu.
Da ich ihn schon in verschiedenen Situationen erlebt habe, komme ich schnell zur Einschätzung, dass sich da wieder mal eine klassische Mobbing-Dynamik abspielt mit ihm als typisches Opfer: Jemand der zwar selbstbewusst ist, aber grundsätzlich sehr darum bemüht konstruktiv eine Lösung zu finden. Allzu oft ziehen solche Menschen dann irgendwann den Kürzeren gegenüber denjenigen, die konsequent destruktiv-gewalttätig agieren. Ganz einfach aus dem Grund, dass es bequemer ist Sündenböcke dem Abschuss freizugeben, als sich den wirklich gewalttätig handelnden Akteuren in den Weg (bzw. die Schusslinie) zu stellen.
Wer keine Lust auf einen nur destruktiv endenden Kampf hat, der zieht es irgendwann vor, zu flüchten. So wie momentan wohl massenhaft Menschen in der Ukraine auch tun. Wer aber genau den Krieg will, der kommt in solchen Situationen erst richtig auf Touren. Geopolitisch haben sich solche Kräfte bisher durchgesetzt. Auf der einen Seite das durch das Pentagon angeführte NATO-Bündnis und auf der anderen Seite Putins Russland mit China im Rücken. Die Kriegsprogaganda läuft auf beiden Seiten auf Hochtouren. Es ist immer dasselbe Spiel seit dem zweiten Weltkrieg: Die Lehre der Shoah ist keineswegs, dass wir Krieg ablehnen, sondern diesen nun immer unter dem Motto “ein Auschwitz verhindern” tun. Auch Putin bezieht in alter Tradition Stalins das Narrativ weiter von der “antifaschistischen Säuberung”, welches auch die westlichen völkerrechtswidrigen militärischen Interventionen des Westens in der einen oder anderen Ausschmückung begleitet haben.
Natürlich immer begleitet mit Beteuerungen, wie sehr man es bedauert, überhaupt kriegerische Mittel anwenden zu müssen. Doch es sei natürlich klar: ,Im Angesicht einer totalitären Macht, sei man halt gezwungen, gewalttätig-militärisch zu intervenieren.
Die ganze Geschichte hat einen Haken: Weil da gabs ja schon immer diese Hippies, Weltfremde und Friedenslieber, die nicht einsehen wollen, dass man manchmal einfach hart durchgreifen muss. So dachte im Jahr 2006 auch Erica Chenoweth, als sie den “gefährlich naiven” pazifistischen Träumern durch eine sorgfältige empirische Aufarbeitung beweisen wollte, dass Gewalt nun mal ein notwendiges Übel sei.
Was sie jedoch selbst überraschte war, dass sie mit diesem Vorhaben genau das Gegenteil bewies: Nämlich dass gewaltfreie Widerstandsformen gegen totalitäre Regimes die viel grössere Erfolgschancen aufzeigten als solche, welche auch gewalttätige Mittel nicht ausgeschlossen haben.
Wieso ist das aber nicht das Ende der Geschichte und wir können uns endlich daran machen, in Kooperation miteinander die Menschheit in ein neues Zeitalter zu bringen?
Die Antwort ist nicht einfach verdaubar: Es liegt an jedem Einzelnen von uns. Wir sind es nämlich, die Mobbing an allen Ecken und Enden unserer Gesellschaft mit ermöglichen. Die wenigsten, indem sie aktiv dazu beitragen. Weitaus mehr in dem wir es passiv dulden, wegschauen, oder uns im naiven Glauben wähnen, dass durch passives Fügen und nicht zu wichtig nehmen, die Problematik ganz von alleine verschwinden wird. Allzu oft glaubt man, Gewalt ausübende Einzelpersonen durch Toleranz, Geduld, Verständnis und Entgegenkommen quasi zu “therapieren”, indem wir an “das Gute” in ihnen glauben. Appeasement-Politik nennt sich das aus historischer Perspektive.
Das ist übrigens eine häufige Verwechslung bezüglich dem Konzept des Gewaltfreien Widerstandes, dem oftmals unterstellt wird, dass es der Verzicht auf Widerstand bedeutet. Dabei hat schon Gandhi es ganz klar benannt, dass es besser ist gewalttätig zu sein, sofern Gewalt im eigenen Herzen lebt, anstatt die eigene Ohnmacht hinter einem Deckmantel von Gewaltfreiheit zu verstecken.
Nun beinhaltet Gewaltfreier Widerstand aber eine grosse Bereitschaft, Leiden in Kauf zu nehmen. Wie wir es bei Gandhi und Martin Luther King jr. erlebt haben, bis hin zum realen Risiko dafür umgebracht zu werden. Der Weg der Gewaltfreiheit zu gehen, macht uns mit aller Deutlichkeit klar, dass es keinen Weg darum herum geht, eigenes Leiden in Kauf zu nehmen.
Was geht mich als Psychotherapeut das Thema an? Ich soll mich doch vor allem dafür interessieren, wie ich Menschen dabei behilflich sein kann, dass sie eine bessere Lebensqualität erreichen.
Dieser Frage ging auch Brené Brown nach in ihren Forschungen, in der sie ausgehend vom Thema “Scham” sich der Frage zuwendete, was Menschen mit einem tiefen Gefühl von Liebe und Zugehörigkeit von denen unterscheidet, welche dies nicht haben. Ähnlich wie Erica Chenoweth wurde auch die sich sehr über Leistung identifizierende Brené Brown durch ihre Studien in ihrem Denken über sich selbst und die Welt zu tiefst erschüttert. Denn diese Menschen nahmen ihre eigene Verletzbarkeit vollständig an und besassen den Mut, sich ihrer Umgebung authentisch mitzuteilen.
Was heisst das aber nun für mich als Psychotherapeut und Bewohner der Schweiz Ende Februar 2022? Was kann ich tun, um mit meiner Angst, meiner Ohnmacht und Überforderung umzugehen? Was ist meine Verantwortung gegenüber meinem Klientel, meiner Familie und der Gesellschaft als Ganzes?
Für mich ist klar: Ich habe nicht das auch über die Steuern hart arbeitender Menschen mitfinanzierte Hochschulstudium an der Universität Zürich gemacht, um mein Wissen und meine Einschätzung für mich zu behalten.
Deshalb sage ich ganz klar: Es gibt keinen Beleg, dass militärische Interventionen irgend etwas besser machen! Auf keinen Fall will ich, dass die Schweiz der NATO beitritt. Es gibt keinen Konflikt, welcher eine militärische Intervention in irgendeiner Weise rechtfertigt. Wer nach empirischen Beispielen suchen will, der wird auch beim absoluten Desaster in Afghanistan schnell fündig. Wir dürfen auf keinen Fall diesen Fehler wieder begehen. Viel zu viel steht auf dem Spiel!
Es geht gerade jetzt in keiner Weise darum, in irgendeiner Weise gegen Russland zu sein. Auf konstruktive Pfade kann uns nur führen Werte wie Kooperation, Dialog, Demokratie, Respekt, Empathie und Vertrauen vorzuleben. Im Hier und Jetzt und überall.
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